Eurythmie

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Die E. basiert auf der um 1900 von →Rudolf Steiner begründeten "Anthroposophie", einer Lehre, welche die menschliche Erkenntnisfähigkeit dahingehend entwickeln will, eine fortschreitende Wesensschau des Geistigen in Welt und Mensch zu erreichen.


Entwicklung der E. durch Steiner

Ab 1912 entwickelte Steiner auf der Grundlage der Anthroposophie die E., eine "akustisch-motorische" Bewegungskunst der "sichtbaren Sprache" und des "sichtbaren Gesangs". Dabei ging er von Goethes Metamorphosengedanke aus, der im einzelnen Teil das Formprinzip des Ganzen sieht und das Ganze als Gestaltidee und ‑prinzip für das Einzelne. Dementsprechend formulierte er seine Idee der E.: Die Sprache und der Gesang sind ein "Teil-Ausdruck" des Menschen. Damit der Teil ein Ganzes wird, muss der ganze Mensch sichtbare Sprach- und Gesangsbewegung werden. So wie beim Sprechen und Singen der Kehlkopf als physischer Träger im Menschen funktioniert, so soll in der E. der "ganze" Mensch das Instrument der künstlerischen Ausgestaltung von Sprache und Gesang sein. Der Körper ist somit der sinnlich wahrnehmbare Ausdruck eines "Übergeordneten" im Menschen und macht sichtbar, was in einem Musikstück oder einer Dichtung gehört und wahrgenommen wird. Die eurythmische Kunst zielt über den äusseren, physisch-sinnlichen Bereich auf den inneren seelisch-geistigen. Die Bezeichnung "Eurythmie" prägte 1912 Steiners Ehefrau →Marie Steiner-von Sivers, die teilweise zur Ausgestaltung der E. beitrug. Der Begriff (griechisch für wohl gestimmter, harmonischer, schöner Rhythmus) findet sich bereits in der klassischen Epoche der griechischen Antike. Steiner unterscheidet die Laut-E., in der die Laute als "sichtbare Sprache" sinnlich wahrnehmbar und fassbar werden, und die Ton-E., die entsprechend den Ton als "sichtbaren Gesang" visualisiert. Laute, Worte, Satzformen und Töne sollen nun aber nicht bloss illustriert oder mimisch skizziert werden. Die Formgebung und ‑gestaltung in der E. beruht auch nicht auf rein subjektiv-emotionalen Momenten, sondern auf Gesetzen. In der eurythmischen Ausführung sollen objektive Gestaltkriterien sichtbar werden. So sind in der Laut-E. die Laute des Alphabets, denen Steiner unterschiedliche körperliche Bewegungsformen zugeschrieben hat, die gesetzmässigen Grundelemente. Entsprechend werden in der Ton-E. Klangverhältnisse versinnlicht und musikalische Verlaufsgesetze, indem sie nachvollzogen werden, verinnerlicht. Die Ton-E. geht nur von Instrumentalmusik aus und gestaltet nie Gesang. Sowohl der Laut- wie der Ton-E. geht es nicht um Deutungen von literarischen Texten oder Musikwerken, sondern um deren Veranschaulichung und Erleben in Bewegungen und Bewegungsformen. Zwischen 1912 und 1924 hielt Steiner insgesamt fünf rund einwöchige Vortragszyklen beziehungsweise Kurse, in denen er in die Grundlagen der E. einführte und welche die sukzessive Weiterentwicklung der E. zur Laut- und Ton-E. aufzeigen.


"Dramatische E."oder Bühnen-E.

Die künstlerische Umsetzung der E. ist in engem Zusammenhang mit Steiners dramatischer Arbeit zu sehen. Bereits ab 1912 bezog er erste eurythmische Formen und Gebärden in seine Mysterienspiele (im Rahmen der Münchener Festspiele) ein. 1915 wurde die erste E.-Truppe als "Goetheanum-Ensemble" in Dornach gegründet. Wurde E. zunächst nur im Rahmen der Theosophischen beziehungsweise ab 1913 der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeführt, fand am 24.2.1919 im Zürcher →Pfauentheater die erste öffentliche E.-Aufführung statt. Seit der Eröffnung des →Goetheanums in Dornach 1920 fanden die meisten E.-Aufführungen im dortigen Kuppelsaal statt. In E.-Aufführungen wechseln sich Musikstücke und rezitierte Texte ab. Von Steiner existieren über 700 eurythmische Raum-Formen, so genannte Eurythmografien, vor allem zu deutschen, aber auch zu französischen, russischen und englischen literarischen Texten sowie zu Musikwerken. Ausserdem hinterliess er mehrere hundert Beleuchtungspläne sowie Kostümangaben. Die Bühne für E.-Aufführungen ist in der Regel leer, eine Szenerie wird höchstens angedeutet, etwa durch ein Kulissenzitat, eine Raumgliederung mit Hilfe eines zusätzlichen Vorhangs oder einen Hintergrundprospekt. Der oder die Rezitierende steht am Bühnenrand. Die E.-Künstlerinnen und ‑Künstler treten in langen, wallenden farbigen Gewändern mit breiten Ärmeln und darüber getragenen Schleiern auf und tragen absatzlose, leichte Schuhe. Dies kommt den charakteristischen fliessenden und raumgreifenden Bewegungen, insbesondere der Arme, entgegen. Die Eurythmistin oder der Eurythmist löst sich kaum vom Boden, es gibt keine artistische Virtuosität von Sprüngen und Formen wie etwa im klassischen Ballett. Ebensowenig gibt es klassische Fuss- und Armpositionen oder gehaltene Posen. Während der klassische Tanz auch die Physiognomie des menschlichen Körpers und seine anatomisch bedingten motorischen Möglichkeiten präsentiert, werden in der E. die Konturen der Glieder, gerade auch der Beine, verwischt. Zu den farbigen Kostümen tritt eine stark kontrastierende Bühnenbeleuchtung in intensiven Farben, die so genannte Licht-E. Sie leuchtet den Raum von vorne in seiner ganzen Breite und Tiefe mit sechs verschiedenen Farben (Weiss, Rot, Gelb, Blau, Grün und Violett) aus. In Anlehnung an Goethes Farbenlehre entwarf Steiner eine Lichtskala, die vor allem durch die Polarität von Rot und Blau, für Aktivität und Passivität stehend, geprägt ist. Die Scheinwerfer sind entgegen der damals üblichen Theaterpraxis mit konvexen statt mit konkaven Reflektoren ausgestattet, um eine weiche, diffuse Lichtgestaltung mit einem grösstmöglichen Streueffekt zu erzielen und einen Lichtraum zu schaffen.


Weiterentwicklung und Tradierung der E.

Nach Steiners Tod 1925 setzte seine Frau die Entwicklung und Vermittlung der jungen Kunst fort. Auf ihre Initiative hin wurde bereits 1922 die erste E.-Schule in Stuttgart gegründet, und in der Folge wurden weitere E.-Schulen und ‑Ensembles unter ihrer Obhut ins Leben gerufen. Sie organisierte und plante zahlreiche Gastspiele und internationale Tourneen, um die E. bekannt zu machen. Ausserdem inszenierte sie in den dreissiger Jahren mit dem Goetheanum-Ensemble in Dornach erstmals beide ungekürzten Teile von Goethes "Faust" (1937 "Faust I", Gastspiel an der Pariser Weltausstellung, 1938 "Faust I und II"). Zu Beginn der neunziger Jahre existierten rund 35 professionelle Eurythmie-Bühnen in über zehn Ländern, die zusammen jährlich gegen 800 Aufführungen präsentierten. Weltweit gab es zu diesem Zeitpunkt rund 2400 Eurythmistinnen und 600 Eurythmisten, wovon maximal 350–400 als Bühnenkünstlerinnen und ‑künstler tätig waren. Die vier- bis fünfjährige Ausbildung kann an 28 Eurythmie-Schulen in rund fünfzehn Ländern absolviert werden.


Angewandte E.

Neben der Bühnen-E. existieren weitere Anwendungen: Eine pädagogisch-didaktische E. wird vor allem in der Waldorfpädagogik der Rudolf-Steiner-Schulen gepflegt. Die Hygienische E. versucht in Laien- und Freizeitkursen und teilweise auch im Rahmen industrieller Unternehmen als so genannte Betriebs-E. einen allgemein harmonisierenden Einfluss auf den Menschen und dessen Arbeitszusammenhänge auszuüben. Die Heil-E. schliesslich stellt eine ganzheitliche Bewegungs- und Heiltherapie dar.

Literatur

  • Veit, Wolfgang: Eurythmie. Else Klink – ihr Wirken in einer neuen Bühnenkunst, 1985.
  • Parr, Thomas: Eurythmie – Rudolf Steiners Bühnenkunst, 1993.


Autor: Thomas Parr



Bibliografische Angaben zu diesem Artikel:

Parr, Thomas: Eurythmie, in: Kotte, Andreas (Hg.): Theaterlexikon der Schweiz, Chronos Verlag Zürich 2005, Band 1, S. 545–547.