Einsiedler Wallfahrtstheater

Aus Theaterlexikon - CH
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Einsiedeln zählte seit dem Mittelalter zu den bedeutenden Wallfahrtsorten (Marienverehrung) Europas. Die Tradition des E. entwickelte sich ab Mitte des 17. Jahrhunderts aus den Prozessionen der Pilgerfeste zum barocken Grossspiel, wandelte sich unter dem Einfluss der Aufklärung und endete 1773. Das E. gehört zu den prachtvollsten religiösen Spielen der Eidgenossenschaft zur Barockzeit und hebt sich auch im europäischen Umfeld als einzigartig heraus. Tausende von Zuschauenden verschiedener sozialer Schichten besuchten die Spiele, die als Freilichttheater konzipiert waren und als geistliches Lehrtheater die religiöse Überzeugung stärken sollten. Es wurden sowohl biblisch typologische Bezüge szenisch hergestellt als auch politisch Aktuelles wie die Türkenbedrohung und die Siege Kaiser Leopolds I. thematisiert. Das E. war eine einzigartige Symbiose von Ordenstheater benediktinischen Einflusses und Volksschauspiel. So wurden die meist deutschsprachigen Spiele von rhetorikgeschulten Verfassern und Regisseuren aus dem Kloster Einsiedeln geschrieben und geleitet, deren Leistungen aus archivalischen Quellen, Periochen (Programme einzelner Aufführungen) und vereinzelt erhaltenen Textbüchern nur mangelhaft zu rekonstruieren sind. Die Darstellenden bestanden aus bruderschaftlich organisierten Leuten aus Einsiedeln und teils aus Pilgern. Die an verschiedenen Tagen im Jahr stattfindenden Feiern hatten für die Prozessionen und Szenen jeweils bevorzugte Stationen. Für grosse Aufführungen bewegte sich die Prozession, gleichzeitig von verschiedenen Orten ausgehend, zum "Theatrum" auf dem "Brüel", einer Wiese nördlich des Klosters.

Theatergeschichtlich von besonderem Interesse sind der Entwicklungsprozess und die Bühnenformen des E.


Entwicklung

Der Ansatz des E. war kultisch, in der Wallfahrt begründet. Die Prozessionen anlässlich grosser Pilgerfeste und Translationen (feierliche Überführung von Reliquien so genannter Katakombenheiliger) enthielten seit Mitte des 17. Jahrhunderts Fercula (Tragbahren für Figuren), lebende Bilder, Personen auf Triumphwagen, die an Kostümen und Attributen unter anderem als biblische oder historische Figuren erkennbar waren, und beziehungsreiche Embleme; durch ihre Aufeinanderfolge ergab sich eine Art Handlung. Spielszenen sonderten sich aus den Prozessionen heraus. Intensiviertes mimisches Element, Gestus, Gesang, dann Rede und Gegenrede verschmolzen. Das stumme Verharren der lebenden Bilder zum Gesang des Chors entwickelte sich zur stummen Handlung. Später wurde die pantomimische Darstellung von Solisten gesanglich begleitet, schliesslich wandelte sich der gesungene Dialog zum gesprochenen. Das mit opernhaften Partien durchsetzte Schauspiel entstand etwa 1700–30. Diese Phase wird als Zwischen- und Übergangszeit charakterisiert, in der die optisch-extravertierte Theatralik zu Gunsten einer ausgewogenen literarischen, musikalischen und theatralen Kunstform zurücktrat und sich die Prozession zu einem schlichten Umzug wandelte. In der Folge entwickelte sich die Tradition der aufgeführten "Rosenkranz-Komödie", die nach dem ab 1736 einzigen Aufführungstermin, dem Rosenkranz-Sonntag (erster Sonntag im Oktober), benannt wurde. Aufwändige Aufführungen, die Protagonisten der Weltgeschichte (Skanderbeg, Kaiser Maurikios, Maria Stuart, Jeanne d’Arc), der Legende (Kunigunde, Jacobus Usurarius) und selten der Bibel (Sedezias, Esther) darstellten, sollten ein Exempel göttlicher Vorsehung und marianischer Fürbittemacht statuieren. Unter dem Einfluss der Aufklärung wandelte sich die "Rosenkranz-Komödie" zu dem nach klassizistischen Regeln konzipierten "Trauerspiel", in welchem Einzelschicksale dargestellt wurden. 1773 wurden die Spiele auf Anordnung des Abts abgeschafft (ohne jeden Bezug zur gleichzeitigen Aufhebung des Jesuitenordens).


Bühnenformen

Die Bühnen wurden anfangs von Fall zu Fall und vielgestaltig aufgebaut. Die Inszenierungen glanzvoller Auftritte, insbesondere fiktiver Türkenschlachten, die über mehrere Schauplätze hinwogten, Szenen mit Meerdekors und weit gestreuten Feldlagern mit Hunderten von Musketieren konzentrierten sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts auf einen Ort. Die Einortbühne bestand entweder aus plastischen Elementen, zum Beispiel aus einem Garten oder Triumphbogen, und Hebemaschinen nach dem Vorbild derjenigen des deutschen Baumeisters und Architekturtheoretikers Joseph Furttenbach oder als Kulissenbühne mit Vorder- und Hinterbühne. Der Vorderbühne konnten Seitenflächen angefügt werden, die Hinterbühne liess sich in eine praktikable Unter- und Oberbühne für realistische beziehungsweise allegorische Darbietungen gliedern. Mitte des 18. Jahrhunderts wurde ein festes Bühnenhaus aussen an der östlichen Umfassungsmauer des Klosters gebaut. Nach einem missglückten Projekt der berühmten Tessiner Illusionsmaler Giuseppe und Gian Antonio Torricelli wurde die Ausschmückung des Baus einem unbekannten süddeutschen Maler anvertraut. Die Bühne war ausgestattet mit Kulissensätzen für Innenräume (Königspalast, Kerker, Lustschloss) und für Landschaftsszenerien (Felsen-, Meer-, Walddekor, Kulissen für Höllengruft, Richtstätte, Stadt). Nach 1773 wurde das Bühnenhaus abgebrochen.

Literatur

  • Braun, Hans Eugen (Pater Heinrich Suso): Bühnenkünste des Einsiedler Barocktheaters. In: Corolla Heremitana, 1964.
  • Braun, Hans Eugen: Das Einsiedler Wallfahrtstheater der Barockzeit. Ein Beitrag zur Schweizer Theatergeschichte, zum Ordensdrama und zum Volkstheater. Dissertation Freiburg im Uechtland, 1969.
  • Braun, Hans Eugen: Das Barocktheater einer "geistlichen Stadt", Einsiedeln/Schweiz. In: Schöne, Albrecht (Hg.): Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert, 1976.
  • Braun, Hans Eugen: Zur Szenografie von barocken Volks- und Ordenstheaterbühnen. In: Atti del XXIV Congresso internazionale di storia dell’arte, 1982.


Autor: Hans E. Braun



Bibliografische Angaben zu diesem Artikel:

Braun, Hans E.: Einsiedler Wallfahrtstheater, in: Kotte, Andreas (Hg.): Theaterlexikon der Schweiz, Chronos Verlag Zürich 2005, Band 1, S. 526–527.