Zürcher Fahrten mit dem Hirsebrei oder Glückhaftes Schiff

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Anlässlich eines Strassburger "Freischiessens" (Schützenfests), an dem sich im Jahr 1576 zirka siebzig Städte beteiligten, erinnerten sich Bürger von Zürich daran, dass die Stadt 1456, in der Zeit der Burgunderkriege, ein Schiff mit einem grossen Topf Hirsebrei ausgerüstet hatte, das im verbündeten Strassburg ankam, bevor der Brei kalt geworden war. Die Zürcher hatten mit der in Rekordzeit durchgeführten Reise "anzeigen wellen, ob sie gleich fer‹n› gesessen, wolten sie doch der statt Strassburg in nöten zeitlich und früi g’nuog zu hilf mögen kommen, gleich als ob sie ire nächsten nachbauren wären."Die Wiederholung der Fahrt mit dem "Breytopf" im Jahr 1576 erregte grosses Aufsehen, wurde in einer Reihe von illustrierten Drucken dokumentiert und antizipierte eine Erneuerung des Städtebündnisses, das 1588 tatsächlich zu Stande kam. 54 Personen, darunter mehrere Ratsherren, ein Theologe, ein Arzt, zahlreiche Handwerker und sechs Spielleute machten sich am frühen Morgen des 20. Juni auf die Reise. Mit sich führten sie einen "Hafen" (Topf) mit zirka sechzig Kilo Hirsebrei und 300 frisch gebackene Semmelringe. Über die Limmat und Aare gelangten sie zum Rhein, wurden unterwegs von befreundeten Städten feierlich begrüsst und erreichten abends gegen zwanzig Uhr Strassburg, wo sie der begeisterten Menge die knusprigen Semmelringe zuwarfen und dann zusammen mit den Strassburger Ratsherren den Hirsebrei zum Klang von Posaunen, Zinken und Gesängen verzehrten. Am folgenden Tag zeigten sie sich auf dem Schützenfest, besichtigten die Stadt und erhielten städtische Fahnen, Geld und 450 Liter Wein als Geschenke. Die Reise des Breitopfs war in allen Einzelheiten sorgfältig als ein Akt politischer Freundschaft und militärischen Beistands inszeniert und wurde von den Beteiligten auch so verstanden. Wie der Arzt Georg Keller in seinem Reisetagebuch berichtet, verglichen die Rheinfahrer sich mit den Argonauten der Antike, den Strassburger Einwohnern kamen die Semmelringe wie "Heiltümer" (Reliquien) vor, den Topf stellte man im Zeughaus aus und allen wurde kundgetan, wie sich ein Ratsherr am Hirsebrei die Lippen verbrannt hatte. Auch die Aktionen der Strassburger Gastgeber waren bedeutungsträchtig: Bei der Besichtigung des Zeughauses und der städtischen Kornkammern konnten sich die Verbündeten von Strassburgs Verteidigungsbereitschaft überzeugen, die musikalischen Darbietungen beim Brei-Essen und das Vorzeigen der astronomischen Münsteruhr unterstrichen die kulturellen Leistungen der Stadt, die üppigen Geschenke ihren Wohlstand. Gleichzeitig strebten beide Städte danach, das Ereignis und dessen politische Bedeutung einer grösseren Öffentlichkeit zu vermitteln. Noch im gleichen Jahr erschienen in Zürich eine lateinische Druckschrift und zwei Lobsprüche in deutschen Reimen; in Strassburg verfasste Johannes Fischart die Verserzählung vom "Glückhafften Schiff". Die beiden Fahrten mit dem Hirsebrei sind anschauliche Beispiele für das im Mittelalter und in der frühen Neuzeit weit verbreitete bildhaft-symbolische Handeln beziehungsweise für eine frühe städtische Theatralität. Sie zeigen gleichzeitig, dass theatrale Aktionen eine ursächliche Rolle als Initiatoren literarischer Produktionen spielten.

In Erinnerung an dieses Ereignis fand beispielsweise 1893 die erste Hirsebreifahrt des Limmat-Clubs Zürich statt; weitere folgten, seit einiger Zeit in einem sechsjährigen Turnus. Seit 1976 wiederholt die Zunft zu Schiffleuten die Hirsebreifahrt alle zehn Jahre nach historischem Vorbild.

Literatur/Quellen

  • Quellensammlung in der Wickiana, Zentralbibliothek Zürich.
  • Reuss, Rodolphe (Hg.): Zur Geschichte des Grossen Strassburger Freischiessens und des Zürcher Hirsebreies 1576, 1876.
  • Baechtold, Jakob: Das glückhafte Schiff von Zürich. Nach den Quellen des Jahres 1576, 1880.


Autorin: Katrin Kröll



Bibliografische Angaben zu diesem Artikel:

Kröll, Katrin: Zürcher Fahrten mit dem Hirsebrei oder Glückhaftes Schiff, in: Kotte, Andreas (Hg.): Theaterlexikon der Schweiz, Chronos Verlag Zürich 2005, Band 3, S. 2160–2161.