Arbeitertheater

Aus Theaterlexikon - CH
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Die Anfänge des A. in der Schweiz gehen wie in Deutschland und anderen industrialisierten Ländern Europas auf die sozialdemokratische Bildungsarbeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Das Theaterspiel war eng mit der Arbeiterbewegung, ihrer Festkultur und ihrem Festspielkalender (unter anderem Tag der Frau am 8. März; Tag der Arbeit am 1. Mai; Jahrestag der Oktoberrevolution am 7. November; Lenin-Liebknecht-Luxemburg-Feier im Januar) verbunden und Teil der proletarischen Kultur. Parallel zum internationalen Emanzipationsprozess der Arbeiterbewegung verfolgte das A. im Laufe seiner Geschichte sehr verschiedene Ziele: Neben politischer Bildungs- und Aufklärungsarbeit, klassenkämpferischer Agitation und antifaschistischem Engagement zählten Abendunterhaltung und Freizeitgestaltung der Arbeiterschaft zu seinen Aufgaben. Entsprechend kannte das A. unterschiedliche Organisationsformen und zahlreiche Bühnen und Kollektive. In der Schweiz blieb das A. grundsätzlich immer ein Theater engagierter Laien, ein Theater von Arbeitern für Arbeiter. Mit dem bürgerlichen Theater vermochten die Arbeiterbühnen in keiner Weise in Konkurrenz zu treten. Indes pflegte das A. nach der Oktoberrevolution von 1917 vor allem in der Sowjetunion und in Deutschland eigene und teilweise neue Stile und theatrale Formen wie lebende Bilder, Strassentheater, Agitprop, Sprech- und Bewegungschöre, proletarische Revuen, Satire und Kabarett und gab damit auch dem Berufstheater wichtige Impulse. In der Schweiz existierten seit Ende des 19. Jahrhunderts in zahlreichen Städten und Industriezentren Arbeiterbühnen. Gefördert wurde das A. durch die Schweizerische Arbeiterbildungszentrale, die 1912 von Gewerkschaften, Arbeiterunionen und der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz als Schweizerischer Arbeiterbildungsausschuss zur Förderung der Bildungsbestrebungen gegründet worden war. Diese zentrale Stelle unterstützte das A. mit Spielleiterkursen (Referenten: →Kurt Früh, →Alfred Fankhauser, →Josef Berger, →Otto Zimmermann), vermittelte Berufsschauspieler als Regiehilfen und stellte Musterprogramme für kulturelle Festgestaltung und Feiern zusammen. Die Schweizerische Arbeiterbildungszentrale veranstaltete verschiedene Dramenwettbewerbe, veröffentlichte um 1946 den Schauspielführer "Arbeiter-Bühne: Literatur-Verzeichnis" und unterhielt einen eigenen Verlag und Bühnenvertrieb. Im Gegensatz zur →Freien Bühne Zürich um →Jakob Bührer missglückten mehrere Versuche, das A. zu professionalisieren. 1923 ging eine von der Schweizerischen Arbeiterbildungszentrale initiierte Wanderbühne, die "Schweizerische Volksbühne", nach kurzer Zeit Konkurs. In den zwanziger Jahren nahm das A. verstärkt den Charakter eines politischen Theaters an. Um 1926–27 entstanden die ersten Sprechchorgruppen in Basel und Zürich ("Roter Stern"), die mit der kollektiven Rezitation und später auch chorischen Bewegungen eine gemeinschaftliche Kunstform suchten, um die Einheit der Arbeiterklasse auszudrücken. 1926 entstand in Zürich aus dem Zusammenschluss der sozialdemokratischen "Arbeiterbühne Zürich" und des kommunistischen "Arbeiter-Dramatischen Vereins" (gegründet 1925) die "Proletarische Bühne Zürich". Ihr Repertoire setzte sich aus Unterhaltungsstücken, sozialkritischen Dramen und politischen Tendenzstücken zusammen. 1928, nachdem die sozialdemokratische Zeitung "Volksrecht" die Übernahme der "Proletarischen Bühne Zürich" durch erfahrene Berufsleute gefordert hatte, wurde →Sascha O. Schoening für kurze Zeit deren künstlerischer Leiter (Aufführung von →Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" im März 1929 und Uraufführung von →Paul Langs "Sturmzeit" am 12.3.1930 im neu erbauten Theatersaal des Volkshauses Zürich). 1930 löste sich die "Proletarische Bühne Zürich" wieder auf; ein Teil ihrer Mitglieder gründete 1931 die →Volksbühne Zürich, Zürich ZH, die in den dreissiger Jahren zur wichtigsten Bühne des schweizerischen A. avancierte. Nach deutschem Vorbild bildeten sich um 1930 Ableger des Agitproptheaters, dessen Aufgabe einerseits in Aufklärung und Belehrung (Propaganda) und andererseits in der Mobilisierung des Proletariats (Agitation) im Dienst der Kommunistischen Partei bestand. 1927 gruppierte sich in Basel die "Rote Bühne Basel" (Leitung: →Eduard Hess). Zu ihrem Repertoire zählten Bruno Schönlanks "Die Erlösung" (aufgeführt im November 1927), Béla Balázs’ "Die Mauer" (März 1928) und Upton Sinclairs "Der Fassadenkletterer" (Januar 1928), später auch eigene Stücke und Revuen. Sie entwickelte sich sukzessive zu einer Agitpropgruppe, wurde 1931 in "Graue Kolonne" umbenannt und löste sich 1933 wieder auf. Daneben entstanden 1930 in Basel weitere Agitpropgruppen: Die "Roten Signale" (Truppe des kommunistischen Jugendverbands), die "Rote Front" (Truppe des Roten Frauen- und Mädchenbunds), die "Roten Sprecher" (Truppe des Roten Jungsturms), 1933–34 bestand auch ein "Rotes Bühnenkollektiv Basel". In Zürich tauchten ebenfalls um 1930 die Gruppen "Dynamit", "Rotes Sprachrohr", und "Prolet" auf; ihre Präsenz beschränkte sich meist auf wenige Monate und Auftritte. 1931 scheiterte ein Versuch, diese Bühnen in einem "Arbeitertheaterbund Schweiz" zu organisieren, doch entstanden in den Industriestädten immer wieder neue proletarische Spielgruppen, Kollektive und Ad-hoc-Ensembles. 1932–35 bestritt das "Bühnenkollektiv Zürich" das Programm der kommunistischen Feiern, wurde darin aber schliesslich von der Volksbühne Zürich abgelöst. Zusammen mit den "Scheinwerfern" in Basel zählte die Volksbühne Zürich zu den bedeutendsten Gruppen des Schweizer A.s der dreissiger Jahre. Beide bestritten ihre Auftritte an Veranstaltungen der Arbeiterparteien und Gewerkschaften oft mit Eigenproduktionen, schenkten künstlerischen Belangen erhöhte Aufmerksamkeit und pflegten die Zusammenarbeit mit professionellen Künstlern. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts stand ihre Arbeit stark im Zeichen des antifaschistischen Engagements. Das Basler Laienkollektiv "Scheinwerfer" ging 1935 aus der Theatergruppe "Agitprop des Kommunistischen Jugendverbandes" hervor. Die etwa zwölfköpfige Gruppe bestritt ihr Programm mit meist selbst verfassten Szenen und Liedern, die der künstlerische Leiter Robert Mislin komponierte. Ihr Agitpropstil wich gegen Ende der dreissiger Jahre einem auf schweizerische Verhältnisse zugeschnittenen politischen Kabarett; davon zeugt auch die Zusammenarbeit mit →Charles F. Vaucher, →Robert Trösch und →Katharina Renn vom →Cabaret Cornichon, Zürich ZH. Das Verbot der Kommunistischen Partei der Schweiz führte 1940 das Ende der Gruppe herbei; einige Mitglieder führten sie als "Volksbühne Basel" weiter, von der sich 1943 die "Neue Volksbühne Basel" abspaltete. Eine Neuformation als "Scheinwerfer" nach dem Kriegsende war nicht von Bestand. Inhaltlich und formal klar abgegrenzt von der Tradition des vaterländischen Festspiels entstand in der Zwischenkriegszeit eine sozialistische Festspielkultur. Wichtige Arbeiterfestspiele waren unter anderem Alfred Fankhausers "Völkerfreiheit" (1930), →Hans Sahls "Jemand" (1938), →Kurt Früh/→Albert Ehrismanns "Der neue Kolumbus" (1939) sowie Ehrismanns "Kolumbus kehrt zurück" (1946). Für die Festspielproduktionen zog das A. oft Berufstheaterleute bei. Einst dazu angetreten, der kulturellen Hegemonie des Bürgertums eine eigene proletarische Kultur entgegenzusetzen, näherte sich das A. im Lauf der dreissiger Jahre der nationalen Konkordanz; während der Kriegsjahre verschwand es fast vollständig. Paul Lang und →Oskar Eberle zählten das A. nicht zum Volkstheater und verbannten es als unschweizerisch – da von fremden Ideologien und Formen geprägt – aus ihrer nationalistisch geprägten Theatergeschichtsschreibung. Nach 1945 kam es nur mehr zu einem kurzfristigen Aufschwung des A.; die Versuche einer Wiederbelebung und Erneuerung misslangen meistens. Nach 1968 versuchten die Studentenbewegung und die Neue Linke, Theatergruppen der Gewerkschaften, Jugend- und neue soziale Bewegungen (beispielsweise die Anti-Atomkraft-Bewegung) sowie Bühnen wie →Die Claque, Baden AG, das →Théâtre Populaire Romand (TPR), La Chaux-de-Fonds NE, oder das →Theater 1230, Bern BE, an Inhalte und Formen des A. anzuknüpfen oder sie weiterzuentwickeln.

Literatur

  • Marti, Erwin: Aufbruch, 1977. Texte zur sozialistischen Kulturdebatte in der Schweiz 1914–1959, 1978.
  • Frey, Ivo: Proletarisches, Agitprop- und antifaschistisches Theater, Dissertation Bern, 1983.


Autor: Werner Wüthrich



Bibliografische Angaben zu diesem Artikel:

Wüthrich, Werner: Arbeitertheater, in: Kotte, Andreas (Hg.): Theaterlexikon der Schweiz, Chronos Verlag Zürich 2005, Band 1, S. 62-64.