Unternehmenstheater

Aus Theaterlexikon - CH
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Auch Betriebstheater, Business-Theater, Firmentheater genannt

Der Begriff U. wird häufig unter die Bezeichnung "bedarfsorientierte Theaterarbeit in Unternehmen" subsumiert. Inhaltlich orientieren sich U.-Aufführungen, die oft, aber nicht unbedingt interaktiven Charakter haben, an betriebsspezifischen Problemfeldern und Konfliktstoffen. Präsentiert werden sie vor dem geschlossenen Zielpublikum der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Unternehmens. Es lassen sich zwei Typen unterscheiden: "massgeschneiderte Theaterstücke" und "Stücke von der Stange" (Georg Schreyögg). "Massgeschneiderte Stücke" entstehen im Auftrag eines Unternehmens. Der beauftragte "Anbieter" entwickelt gegen Honorar ein Theaterstück nach einem vom Unternehmen definierten Bedarf und Zweck. "Stücke von der Stange" werden dagegen nicht spezifisch für ein Unternehmen und sein konkretes Anliegen erarbeitet. Diese Stücke verhandeln allgemeinere Themen wie beispielsweise "kundenorientiertes Denken", "Angst vor Veränderung" oder "Alkohol am Arbeitsplatz" und können somit in verschiedenen Unternehmen gespielt werden.


Potenzial und Ziele

Das U. dient als Instrument der Personal- und Organisationsentwicklung. Es wird vor allem innerhalb von Organisationen zur Kommunikation nach innen eingesetzt. Unternehmen wollen auf diese Weise ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter motivieren, sie für neue Unternehmensstrukturen sensibilisieren, neue Werte vermitteln oder Kommunikationsstörungen zur Sprache bringen; U.-Veranstaltungen gehören zur Arbeitszeit und sind für die betreffenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Betriebs eine Pflichtveranstaltung. Das U. kann dazu beitragen, betriebsinterne Gewohnheiten und Abläufe zu hinterfragen, das Problembewusstsein zu schärfen und Veränderungsprozesse in Gang zu bringen. Im Vordergrund steht nicht der künstlerische und ästhetische Anspruch, sondern die Wirkung der Aufführung auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das Publikum soll durch spielerische Veranschaulichung von Problemsituationen auf emotionaler Ebene angesprochen und zur Reflexion angeregt werden.


Methoden

Die Formen, wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in die Theateraufführung eingebunden werden, variieren. In der Regel sind sie als aktive Zuschauerinnen und Zuschauer oder als Mitspielerinnen und Mitspieler beteiligt, mitunter werden sie sogar in die Erarbeitung des inhaltlichen Konzepts und die Entstehungsphase mit einbezogen. Die Theaterschaffenden wenden häufig Methoden an, bei denen Interaktionsmöglichkeiten für das Publikum bestehen. Beispielsweise wird, in Anlehnung an das "Forum-Theater" von Augusto Boal ("Theater der Unterdrückten", 1975), von den Schauspielerinnen und Schauspielern eine Modellszene vorgeführt, die jedoch keine befriedigende Lösung anbietet. Anschliessend wird die Szene unverändert erneut begonnen, und die Zuschauer haben nun die Möglichkeit, sich aktiv zu beteiligen, indem sie intervenieren und neue Lösungsvorschläge durchspielen. Auch das "Playback-Theater", eine Form des interaktiven Improvisationstheaters, die 1975 von Jonathan Fox in den USA entwickelt wurde, kommt zur Anwendung: Die Zuschauerinnen und Zuschauer erzählen zu einem bestimmten Thema persönliche Erlebnisse, welche die Schauspielerinnen und Schauspieler in improvisierte Theaterszenen verwandeln. Bei der Form des "Feedback-Theaters" schliesslich beobachtet der Anbieter beispielsweise einen Betriebsanlass oder eine Tagung. Danach widerspiegelt er durch improvisiertes Spiel bestimmte Situationen zugespitzt und gibt damit ein Feedback, das Inputs und Ausblicke geben sowie weitere Potenziale bewusst machen soll.


Entwicklungen in verschiedenen Ländern

In Europa blickt Frankreich auf die längste U.-Tradition zurück. Als Pionier des französischen "Théâtre d’entreprise" gilt der Philosoph und Dramatiker Michel Fustier. 1986 wurde er gebeten, das Tagungsthema des Jahreskongresses der französischen Gesellschaft für Qualität (AFCIQ) als Grundlage für ein Theaterstück zu nehmen. Das Stück wurde am Kongress uraufgeführt und von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern begeistert aufgenommen. Die Art und Weise, wie das Thema des Kongresses mit theatralen Mitteln transportiert wurde, stiess auf Interesse und regte dazu an, diese Art der Kommunikation auch in Unternehmen einzusetzen.

1991 fand das erste U.-Festival (Festival international du théâtre d’entreprise, FITE) in Nantes statt. Es sollte ein Ort der Reflexion und des Austauschs zwischen Theater- und Unternehmenspraktikerinnen und -praktikern sowie eine Plattform für die Präsentation neuer Stücke sein. Das erste Festival verschaffte der jungen Branche einen Wachstumsschub. In Frankreich werden schätzungsweise jährlich rund 600 Inszenierungen in Unternehmen realisiert. Mittlerweile hat sich das FITE etabliert und findet alle zwei Jahre statt. Eine Jury aus Theaterleuten, Managerinnen und Managern sowie Journalistinnen und Journalisten beurteilt die dargebotenen Produktionen.

Neben Frankreich kommt Kanada eine Pionierrolle im Bereich U. zu. Das 1984 von Christian Poissonneau in Montréal gegründete Théâtre à la carte (TAC) brachte dem U. in Europa neue Impulse, indem es 1992 in Frankreich, 1996 in Brüssel, Antwerpen, 1997 in Luxemburg, 1998 in Barcelona, 1999 in Québec, Montpellier und Genf (Créadévelop) sowie 2002 in London Niederlassungen gründete.

Auch in den USA, in England (unter der Bezeichnung: "Business theatre"/"Organizational theatre"), in Dänemark und Schweden konnte sich das U. etablieren.

In Deutschland begann sich die Branche zu Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu formieren. Einer der ersten Anbieter war das Visual Training GmbH Business-Theater aus Mannheim, das 1991 von Bernhard Strobel gegründet wurde. Ein weiterer U.-Pionier in Deutschland war die Gruppe Scharlatan aus Hamburg. Angeregt durch das FITE in Nantes organisierte Jürgen Bergmann 1997 unter dem Titel "Business goes Theater" mit seiner Unternehmensberatungsfirma Transico (Gründung 1990) in Hof ein erstes "Forum für Theaterarbeit im Dienste der Wirtschaft". Zwei weitere Treffen von Theatergruppen, Unternehmensberaterinnen und -beratern sowie Führungskräften aus der Wirtschaft fanden in den Jahren 1998 und 1999 statt.


U. in der Schweiz

In der Schweiz ist das U. ebenfalls ein relativ neues Phänomen. Eine Vorform des U. realisierten bereits 1972 die beiden Mimen →Bernie Schürch und →Andres Bossard der Gruppe →Mummenschanz: sie besuchten in Mittagspausen und nach Arbeitsschluss Unternehmen und Betriebe, um in Maschinenräumen, Kantinen und Firmenfoyers ihr halbstündiges Maskenspiel (nicht betriebsspezifischen Inhalts) an Leute heranzutragen, die nicht gewohnheitsmässig ins Theater gingen, diese zum Mitmachen zu animieren und das Erlebte mit ihnen in einer anschliessenden Diskussion zu reflektieren.

Die Anfänge des U. im eigentlichen Sinn in der Schweiz können in die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts gelegt werden. Auch in der Schweizer Wirtschaftswelt nahm im Zuge der Umstrukturierungen, Fusionen und Deregulierungsmassnahmen das Bedürfnis nach Kommunikation, Transparenz und Weiterbildung zu. Damit stiess die bedarfsorientierte Theaterarbeit in Unternehmen zunehmend auf Interesse, und mittlerweile nehmen einige namhafte Schweizer Firmen die Dienstleistung U. in Anspruch. Mit der verstärkten Nachfrage wächst die Zahl mehr oder weniger professioneller Angebote. Voraussetzung für die Professionalisierung dieser neuen Form angewandten Theaters ist die Zusammenarbeit von professionellen und/oder halbprofessionellen Theaterschaffenden mit qualifizierten Unternehmensberaterinnen und -beratern sowie den Unternehmen, also den Kunden aus der Wirtschaft.

Zu den bis anhin bekannteren Anbietern von U. in der Schweiz zählen das Playback-Theater Zürich, Emil Herzog live, die ID Fabrik, die Theatergruppe Colori, das M.U.T.H.-Ensemble, die Gruppe Act! sowie Créadevelop.

Eines der ältesten U. der Schweiz ist das Playback-Theater in Zürich, dessen Name sich von der hauptsächlich angewandten Methode herleitet. 1992 wurde es von Karin Bettina Gisler (Gesamtleitung) gegründet, mit der Absicht, interaktives und improvisiertes Theater anzubieten. Die Gruppe, rund fünfzehn Schauspielerinnen und Schauspieler sowie Musikerinnen und Musiker, arbeitet für Institutionen, Firmen, Schulen und Privatpersonen. Angeboten werden Playback-Theateraufführungen zu einem gegebenen Thema, vorbereitete Theaterstücke zu einem bestimmten Problemfeld sowie Ausbildungs- und Trainingsaktionen. Das Playback-Theater Zürich verzeichnet derzeit rund 120 Aufträge jährlich und nimmt an verschiedenen internationalen Symposien teil.

Seit 1988 tritt der ehemalige Nestlé-Manager und Clown Emil Herzog (Emil Herzog live) als Kabarettist in Firmen sowie an Symposien auf und leitet Schulungen für Unternehmen. Mit seinem "Parodienspiegel" oder mit "Feedback-Theater" versucht er auf humoristische Weise, dem Personal seine Eindrücke von den Verhältnissen in einem Unternehmen zu vermitteln, welche er durch Teilnahme an verschiedenen betriebsinternen Anlässen oder durch Beobachtung des Arbeitsalltags gewonnen hat. In seinen Schulungen wendet er interaktive Methoden des Theaters an und lässt die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer problematische Situationen anhand von Szenen durchspielen und erproben.

Die ID Fabrik, ein Netzwerk für Unternehmensberatung, bietet neben anderen Dienstleistungen U. an. Die Berner ID Fabrik, seit 1988 tätig, betreibt seit 1996 interaktives Theater. Sie bedient sich hauptsächlich der Methode des "Forum-Theaters" und schult auf diese Weise unter anderem Nachwuchskader grosser Firmen oder entwickelt "massgeschneiderte Stücke", beispielsweise im Bereich Firmenumstrukturierung.

Ein weiterer Anbieter in der Schweiz ist die 1984 gegründete und in St. Gallen ansässige freie Theatergruppe Colori, die mit Strassentheater, Theater­animation und Bühnenstücken begann und seit 1996 mit "theateranimierten Planspielen" (TaP) Auftragsarbeiten für diverse Institutionen umsetzt. Die Form des TaP wurde im Theater Colori entwickelt und beinhaltet zu einem Themenkomplex (beispielsweise 1996 "Kommunikation mit Fremdsprachigen", 1998 "Veränderung in Unternehmen und in sozialen und kulturellen Institutionen", 2000 "Kreativität unter Zeitdruck") Theaterspielszenen der Colori-Spielerinnen und -Spieler, Gruppenarbeiten und Spielaufträge für die Teilnehmenden sowie eine gemeinsame Auswertung.

1997 startete das M.U.T.H.-Ensemble aus Basel (M.U.T.H. steht für Motivieren, Unternehmen, Trainieren, Handeln), ein Team aus Theaterschaffenden sowie Unternehmensberaterinnen und -beratern (unter anderen →Dalit Bloch, →Daniel Buser, →Regina Christen, Urs Anders Graf, Urs Häusermann, Sandra Moser und →Roland Suter), seine Aktivitäten im Bereich U. und inszenierter Kommunikation. 2001 wurde das Ensemble unter der Leitung von Graf in die Firma "anders. Unternehmensdramaturgie" integriert. Für jeden Auftrag wird die Truppe individuell zusammengestellt, wobei je nach Bedarf weitere Schauspielerinnen und Schauspieler hinzugezogen werden.

Das 2001 gegründete Act! (mit Sitz in Rotkreuz im Kanton Zug) ist ein loser Zusammenschluss von Pädagogen und Unternehmensberatern und versteht sich als "Netzwerk U. Schweiz". Act! veranstaltet Fortbildungsveranstaltungen sowie Kommunikationstrainings und arbeitet mit interaktiven Theatermethoden wie "Interventionstheater" oder "Themenzentriertem Theater". "Interventionstheater" basiert auf Szenen, die im Vorfeld von einigen ausgewählten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eines Unternehmens erarbeitet werden und in der Form des Forum-Theaters zur Diskussion gestellt werden. Der geschützte Begriff "Themenzentriertes Theater (TZT)" wurde von Heinrich Werthmüller geprägt und bezeichnet ein pädagogisches Konzept, das anhand von vorgelegten Spielsituationen Lerneffekte und Erfahrungen ermöglicht. Mummenschanz, Altstätten SG Um Know-how auszutauschen, werden in dieser aufstrebenden Branche länderübergreifende Kontakte gepflegt. Beispielsweise waren Emil Herzog live 1997 und 1999 und die ID Fabrik 1999 am Forum "Business goes Theater" in Deutschland vertreten. Ebenso gastieren Gruppen aus Deutschland in der Schweiz.

In der französischsprachigen Schweiz eröffnete 1999 das kanadische Théâtre à la carte eine Zweigstelle unter dem Namen Créadevelop. Die Leiterin Almari Muller bietet mit ihrer kleinen Truppe (fünf Genfer Schauspielerinnen und Schauspieler, darunter ein Autor) U. "prêt-à-jouer" oder "sur mesure" an, also Theaterstücke "von der Stange" oder "nach Mass". In der italienischsprachigen Schweiz konnte sich das U. ("teatro d’impresa") noch kaum durchsetzen.

Die bedarfsorientierte Theaterarbeit in Unternehmen gilt mittlerweile als ein anerkanntes Instrument der Problemlösung. Angesiedelt an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Kultur, ist U. mehr als Dienstleistung denn als Kunstform zu verstehen.

Literatur

  • Passow, Wilfried: Business goes Theater. In: Theater der Zeit 6/1997.
  • Schreyögg, Georg/Dabitz, Robert (Hg.): U., 1999.


Autorin: Susanna Tschui



Bibliografische Angaben zu diesem Artikel:

Tschui, Susanna: Unternehmenstheater, in: Kotte, Andreas (Hg.): Theaterlexikon der Schweiz, Chronos Verlag Zürich 2005, Band 3, S. 1985–1988.