Tojo, Bern BE

Aus Theaterlexikon - CH
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Spielstätte mit Eigenproduktionen und Gastspielbetrieb

Der Theaterraum T. befindet sich in der ehemaligen städtischen Reithalle. Anfang der achtziger Jahre wurde wie in anderen Schweizer Städten in Bern ein autonomes Jugendzentrum gefordert. Die seit den sechziger Jahren als Abbruchobjekt geltende, leer stehende Reithalle bot sich für diese Zwecke an. Nach einigen Auseinandersetzungen zwischen den Berner Stadtbehörden und der autonomen Bewegung trat die neu gegründete Interessengemeinschaft Kulturraum Reitschule (IKuR) Anfang 1986 für ein selbst verwaltetes Kulturzentrum bei der Stadt, der Hauseigentümerin, ein. Knapp ein Jahr später beschloss der Berner Stadtrat trotz dieser und anderer Vorschläge den Abbruch der Reithalle. Massive Proteste und die Besetzung des Gebäudes im Herbst 1987 verhinderten die Durchsetzung dieses Beschlusses. Ende Dezember verabschiedete die IKuR ihr Betriebskonzept für die Räume der Reithalle, das "nichtkommerzielle Kultur und Selbstverwaltung" vorsah. Nicht etablierte Kulturschaffende sowie Veranstalterinnen und Veranstalter sollten das Programmangebot bestimmen. Der Betrieb des autonomen Kulturzentrums wurde aufgenommen. Arbeitsgruppen planten und koordinierten die einzelnen Veranstaltungsschwerpunkte. Bis heute erhält die Reithalle keine Subventionen; die Stadt leistet seit 1993 einen Beitrag an die allgemeinen Betriebskosten und stellt das Gebäude unentgeltlich zur Verfügung. Die Arbeitsgruppe für Theateraufführungen begann 1988 mit der Sanierung des bis Ende der neunziger Jahre unter dem Namen "Dojo" betriebenen Raums in der "Remise West" (finanziert durch Zusatzveranstaltungen wie Baufeste, deren Ertrag der Sanierung der Reithalle insgesamt zukam, und insbesondere durch T.-Discos) und organisierte den Betrieb. Keine bürokratischen Hürden sollten die Möglichkeiten zum Experiment (auch zum scheiternden) einschränken. Der Theaterraum T. wird wie die Reithalle nicht subventioniert, Subventionen und/oder Defizitgarantien sind Angelegenheit der auftretenden Gruppen. 2003 erhielt das T. einen einmaligen Projektbeitrag der Stadt Bern, der in Öffentlichkeitsarbeit und Equipment floss. Die 1988 gegründete semiprofessionelle Theatergruppe Spontantheater eröffnete den Theaterraum noch im gleichen Jahr mit "Etappenstopp" und produzierte unter anderem 1989 "Wohnungsnottheater", 1996 die TV-Show-Satire "Jukebox" sowie seit 1988 mehrere berndeutsche Weihnachtsmärchen. Das 1989 gegründete →Theater Club 111 zeigte dort unter anderem 1991 →Grazia Pergolettis "Innenarbeiterinnen" und →Meret Matter/Pergolettis Science-Fiction-Serie "Spaceboard Galuga", 1994 →Guy Krnetas "Die Pferde stehen bereit" sowie 1996 Ruth Schweglers "Calamity Jane". Die "BetreiberInnen‑ und Arbeitsgruppe T.", der Mitglieder des Spontantheaters, des Theaters Club 111 und weitere Personen angehören, berücksichtigte bei der Auswahl der Gastspiele anfangs in hohem Masse politische Inhalte, aber auch die jeweilige Arbeitsweise (beispielsweise Mitspracherecht der Beteiligten, Gagenverteilung) der einzelnen Gruppen. Seit den neunziger Jahren traten vor allem Schweizer Gruppen der freien Szene und gelegentlich ausländische Truppen im T. auf, unter anderem das →Berner Ensemble und die Gruppe 99hundert aus Bern, die →Klara Theaterproduktionen aus Basel, die →Off Off Bühne und →400asa aus Zürich sowie die →Geschwister Pfister. Seit 2002 finden im T. auch zunehmend Lesungen statt (unter anderem von Wiglaf Droste, Max Goldt, Sibylle Berg). Wesentliche künstlerische und organisatorische Mitarbeit im T. leisteten Werner Schöni, Martin Senti, Kuno Sorgen und Marie-Louise von Wattenwyl vom Spontantheater, Matter, Serge Nyffeler, Pergoletti, Schwegler sowie Renate Wünsch vom Theater Club 111, Matthias Schmid (Bühnenbild, Mitarbeit seit Eröffnung des T.) und Silvie von Kaenel (Administration seit 2000).

Auszeichnungen

  • 1999 erhielten die Arbeitsgruppen "Spontantheater", "Dachstock" (Musik) und das "Kino in der Reitschule" den Kulturpreis des Kantons Bern.

Spielstätte

Neubrückstrasse 8, 3012 Bern. Architekt: Albert Gerster, Baujahr: 1895/96. Der Raum in der Remise West im Erdgeschoss diente früher als Kutschen- und Droschkengarage, nach der Einstellung des Reitbetriebs als Kulissenlager des Stadttheaters Bern. 1988 erstmals als Theaterraum genutzt. Variabler Bühnenraum. 1990 wurde der Kutschenlift bei einem Brandanschlag auf die Reitschule zerstört. Bühnenraum: 12 m breit, 8 m tief, 4 m hoch. Seit Mitte der neunziger Jahre fortlaufend Um- und Ausbauarbeiten, geleitet von Schöni und Wünsch: Bühne, Garderobe, Zuschauertribüne (vordere Reihen aus mobilen Elementen), rund 150 Plätze.

Literatur

  • Hansdampf: Reithalle Bern, 1998.


Autor: Thomas Keller



Bibliografische Angaben zu diesem Artikel:

Keller, Thomas: Tojo, Bern BE, in: Kotte, Andreas (Hg.): Theaterlexikon der Schweiz, Chronos Verlag Zürich 2005, Band 3, S. 1951–1952.